ELITKA 100

Die Elite-Werke in Varnsdorf (Warnsdorf) hätten 2024 ihr 100-jähriges Bestehen gefeiert, wenn sie noch existiert hätten. Der ehemalige Stolz der tschechischen Textilindustrie mit einer Produktion von mehreren Millionen Strümpfen schrumpfte in den vergangenen Jahren zu einem Unternehmen mit nur wenigen dutzend Angestellten, bis der Betrieb 2023 zur Gänze eingestellt wurde. Still und leise ist die Elitka aus der Stadt verschwunden.

Viele Männer und Frauen, die ihr Leben der Arbeit bei Elitka gewidmet hatten, empfanden es als eine Ungerechtigkeit, dass die Fabrik plötzlich weg war. Die Welt, in der sie gelebt und gearbeitet hatten, verschwand vor ihren Augen. Es geschah über Nacht. Es wurde ihnen gesagt: „Kommt morgen nicht mehr“, und die Tore der Fabrik schlossen sich. Die Beziehungen der Menschen zu Elitka blieben aber unabgeschlossen und unvollendet. Das zeigte sich ganz klar an dem Tag, an dem die Menschen zum letzten Mal in das Innere der verlassenen Fabrik gehen und die Büros und den Betrieb besuchen konnten. Dort erkannten sie ihre Stühle, Dekorationen und Maschinen wieder und erinnerten sich mit Bitterkeit an die Zeiten, in denen ihre Arbeit produktiv und sinnvoll erschien. Darin bestand der Unterschied zu den Fabrikbesitzern nach der Wende im Jahr 1989, für die in der Regel nichts von dem wichtig war, wofür die Menschen vor Ort lebten.

Zwar wurde die Fabrik in der Stadt geschlossen, doch die ehemaligen Angestellten und ihre Familien leben nach wie vor in Varnsdorf und Umgebung. Die Menschen waren stolz auf die Arbeit und nannten sich „Eliťáci“ (dt. etwa „Elitäre“), und nicht selten waren Familienmitglieder aus drei Generationen in der Fabrik angestellt. Als fester Bestandteil der Region existiert die Elitka in den Köpfen und Herzen der Menschen weiterhin. Daher habe ich beschlossen, ein würdevolles Fest für dieses runde Jubiläum zu organisieren. Bei dieser Gelegenheit stellte ich mir auch die Frage, wie eine Auszeichnung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für ihre lebenslange Tätigkeit aussehen sollte, die viele von ihnen nie erhalten haben.

In der ersten Phase des Projekts machte ich mich gemeinsam mit meinem Team auf die Suche nach ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Elitka, um sie in mein Projekt einzubinden. Ich startete einen Aufruf auf der Website und stellte Sammelboxen in Varnsdorf und Krásná Lípa auf, denn in der Strickwarenfabrik Schindler in Krásná Lípa wird die Marke Elite weiterverwendet. Ich bekam mehr als 700 Rückmeldungen, und ab November 2023 trafen mein Team und ich uns nach und nach mit allen, die sich gemeldet hatten. Sie tauschten sich mit uns und untereinander über ihre persönlichen Erinnerungen an die Arbeit, an das Arbeitskollektiv und die Freizeitaktivitäten aus.

Allmählich stellte sich heraus, dass viele Menschen die schönen Erinnerungen als größte Auszeichnung betrachteten. Doch eine grundlegende Sache störte sie: Sie waren nicht mehr in der Fabrik tätig. Nach der Wende kam es zu Entlassungen, die in den darauffolgenden 30 Jahren kein Ende nehmen wollten. Unter Tränen erzählten uns zahlreiche Angestellte davon, wie sie von einen Tag auf den anderen gekündigt wurden, und dass es für sie heutzutage sehr schwer ist, an der Fabrik auch nur vorbeizugehen. Sie sprachen Themen an, die mehrere Firmen in ganz Tschechien betreffen, welche ebenfalls geschlossen wurden, und oft blieb nicht genug Zeit und Geld, um den Angestellten einen gebührenden Abschied zu bieten und sich bei ihnen für die jahrelange Arbeit zu bedanken.

Als sich am Freitag, dem 24. Mai, um 16.00 Uhr das Haupttor der Elite-Fabrik wieder öffnete, um die ehemaligen Angestellten ein letztes Mal zu ihrer LETZTEN SCHICHT zu begrüßen, begann es stark zu regnen. Das kümmerte aber niemanden und aus allen Richtungen kamen Hunderte von Menschen. Viele von ihnen gingen langsam, andere mit Gehstöcken, wieder andere hatten Begleitpersonen dabei, um überhaupt kommen zu können. Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, dass der Hauptteil des Programms nicht in der Fabrikhalle stattfinden würde, wo die ganze Zeit über eine Musikband gespielt hat, sondern direkt im Büro des Werkleiters, das die einzelnen Angestellten im Laufe des Programms nach und nach besuchten.

Das ganze Jahr hatte ich darüber nachgedacht, welche Art von Belohnung ich den Menschen für ihre lebenslange Arbeit in der Fabrik geben könnte. Was für eine Situation könnte man schaffen, um die Ungerechtigkeit im Zusammenhang mit dem bitteren Ende wieder gutzumachen? Und dann kam mir die Idee, den gesamten Prozess der Kündigung im Detail zu wiederholen und die Angestellten mit einer unkonventionellen Abfindung zu belohnen, die sie nie erhalten haben. Ich ermittelte den ungefähren Wert der Fabrik in den 1990er Jahren (etwa 210 Millionen CZK), was bei 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer Belohnung in Höhe von 300.000 CZK pro Person entsprach. Auf einzelne Banknoten bildete ich die ehemaligen Fabrikangestellten ab und auf der Rückseite wurden ihre Erinnerungen, die wir bei unseren Treffen gesammelt haben, abgedruckt. Mit dieser Geste machte ich die einzelnen Angestellten symbolisch zu einer echten Elite und gleichzeitig materialisierte ich dadurch die Tatsache, dass die größte Belohnung für die meisten von ihnen die guten Erinnerungen sind.

Für die Rolle des Werkleiters konnte ich den großartigen Schauspieler des Theaters in Vinohrady, Otakar Brousek, gewinnen, der seine Rolle in dem Büro mit absoluter Genialität meisterte. Erstaunt und schockiert über diese Situation waren nicht nur die ehemaligen Angestellten, sondern auch ich selbst, als ich sah, wie er sich zum Beispiel, ohne zu zögern hinkniete, um einer älteren Dame die Schnürsenkel zu binden. Vier Stunden lang stand er im Büro des Werkleiters, belohnte unermüdlich einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und dankte ihnen für ihre Arbeit für die Fabrik. Jedem einzelnen überreichte er dreihundert verschiedene Tausend-Kronen-Scheine, die gleichzeitig auch zur Chronik dieses Werks wurden.

Das umfangreiche Feierprogramm dauerte drei Tage, aber es war gerade die LETZTE SCHICHT, die zu einer echten Gruppentherapie wurde. Mit einer einfachen Geste gelang es uns nicht nur, uns von den ehemaligen Angestellten der Fabrik gebührend zu verabschieden, sondern auch der Existenz der Elite-Fabrik in Varnsdorf ein positives Ende zu setzen. Hunderte von begeisterten Reaktionen sind der beste Beweis dafür.

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