Meistens erinnert man sich nostalgisch an seine Jugend, aber so rosig war es damals nicht.
Interview mit dem bürgermeister Jan Šimek
Wie würden Sie Ihre Beziehung zur Stadt Varnsdorf beschreiben? Sind Sie hier aufgewachsen?
Ich bin gebürtiger Varnsdorfer. Meine Großeltern kamen nach dem Zweiten Weltkrieg in die Stadt, im Rahmen der Umsiedelung in die Grenzregionen, nach der Vertreibung der ursprünglichen, deutschsprachigen Bevölkerung.
Aus welchem Grund haben Sie sich entschieden, in den Wahlen zu kandidieren und Bürgermeister einer Stadt zu werden, in der es derart viele Probleme gibt?
Ich interessiere mich schon lange für Kommunalpolitik und für das Geschehen in der Stadt. Im Jahr 2011 wurde Varnsdorf von Anti-Roma-Demonstrationen erschüttert. Viele Einwohnerinnen und Einwohner gingen auf die Straße, da hier Ghettos entstanden sind, die einen sehr schlechten Ruf hatten. Ich war peinlich berührt, als ich diese Masse an manipulierten Menschen vor den Fenstern der Roma sah. Zu dieser Zeit habe ich angefangen, mich für das lokale Geschehen zu interessieren, und vor knapp sechs Jahren wurde ich zum ersten Mal Stadtrat. Als ich mich für die Kandidatur entschieden habe, war die berüchtigte Causa um die illegale Errichtungen von Radaranlagen bereits bekannt. Gemeinsam mit weiteren Mitgliedern des Stadtrats setzte ich mich für die Abberufung der damaligen gesetzlichen Vertreter der Stadt ein und ich wurde der Leiter der Kampagne unserer Kandidatin. Seit den frühen 1990ern bin ich außerdem Mitglied der hiesigen Apostolischen Kirche. Ich glaube, dass die Kirche die Gesellschaft aktiv beeinfluss sollte. Wir zum Beispiel leiten eine gemeinnützige Organisation, die Menschen mit Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht hilft.
Was sind Ihrer Meinung nach die größten Probleme und Herausforderungen, denen Varnsdorf gegenwärtig ausgesetzt ist, und wie könnte die lokale Bevölkerung bei der Bekämpfung helfen?
Die größte Kritik kommt oft von sehr passiven Menschen, die sich gar nirgends engagieren. Ich sehen das vor allem auf Social Media. Da sind keine Menschen, die sich aktiv bei Kultur, Sport oder im gesellschaftlichen Geschehen einbinden. Hier gibt es ein Theater, ein Kino, ein Zentrum für Kinder und Jugendliche, einen Turnverein mit etwa siebenhundert aktiven Mitgliedern, eine Eissporthalle, ein Schwimmbad, einen Verkehrsspielplatz, usw. Wir werden außerdem einen Skatepark errichten, und wir haben einen Badeteich und ein altes Freibad, das wir gerade renovieren. Der tschechische Tourismusclub und der Seniorenverein bringen sich aktiv ein. Dafür, dass Varnsdorf nur 15.000 Einwohnerinnen und Einwohner hat, gibt es hier eine Vielzahl an Möglichkeit. Ich denke, dass Varnsdorf eine sehr gute Stadt ist, aber leider auch eine mit schlechtem Ruf. Der rührt aus der Vergangenheit, wegen der bereits erwähnten Anti-Roma-Proteste oder der berühmt-berüchtigten Neunzigerjahre und der Prostitution, die sich vor allem deshalb entwickelte, weil Varnsdorf zu drei Vierteln von Deutschland umgeben ist.
Welche Beziehung haben Sie zur Firma Elite? Hat jemand aus Ihrer Familie dort gearbeitet?
Meine Mutter hat die meiste Zeit ihres Berufslebens in der Elite gearbeitet. Ich selbst habe die goldene Ära der Firma als Kind erlebt. In der fünften Klasse war ich auf einem Pionier-Ferienlager der Elite in Výsluní, ich war dort auch mit meinen Eltern in den Ferien. Die Elite war damals eine große Fabrik, in der ein Drittel der Eltern meiner Freunde arbeiteten (die Eltern der anderen Freunde arbeiteten in der TOS oder in der Velveta – zwei weiteren Varnsdorfer Fabriken), und wir bekamen am Nikolaustag Geschenke oder gingen auf Karnevalsfeste, die von der Elite veranstaltet wurden. Ich erinnere mich, dass ich als Kind bei einem Karnevalsfest ein Gedicht durch ein Mikrofon aufgesagt habe und ganz schockiert war, wie komisch das klang. Mein Papa war Musikant und hat auch auf unterschiedlichen Festen gespielt.
Wie beeinflusste die Elite das gesellschaftliche Leben in der Stadt? Wie haben sich die Kultur und das gesellschaftliche Leben in der Stadt verändert, als die Entlassungen begonnen haben und die Fabrik schließlich geschlossen wurde? Wie hat sich die Kultur in der Stadt im Laufe Ihres Lebens verändert?
Die Firma hatte zwar die Gewerkschaftsorganisation ROH, einen Kulturclub, in dem alles gefeiert wurde, alles zentral geregelt war und den Menschen gefiel das auch, aber dazwischen gab es sehr viel Grau. Wir mussten damals Schlange stehen, um Mandarinen zu kaufen, und niemand konnte es sich leisten, ans Meer zu fahren. Meistens erinnert man sich nostalgisch an seine Jugend, aber so rosig war es damals nicht. Im Gegenteil. Ich bin froh, dass wir in einer Demokratie leben. Ich erinnere mich noch, als die Firma mit den Entlassungen der Angestellten begonnen hat. Sie kamen dann in neu entstandenen, kleineren Privatunternehmen unter. Die Ferienlager fanden nicht mehr statt, aber man gründete Organisationen und Vereine, die ebenfalls Ferienlager und Freizeitaktivitäten für Kinder anboten. Die Gesellschaft hat sich im Laufe der Zeit geändert.
Bei den Gesprächen mit ehemaligen Angestellten aus der Firma Elite hört man oft, dass es keine kulturellen Veranstaltungen mehr in der Stadt gibt. Vor allem Seniorinnen und Senioren wussten nicht wohin – wenn nicht zum Seniorenverein. Einige freuten sich besonders auf die Feier der Jubilare im Rathaus. Haben Sie als Vertreter der Stadt darüber nachgedacht, selbst etwas zu organisieren, etwa ein Treffen für die ehemaligen Angestellten dieser großen Firmen? Man hat auch gehört, dass sich die Menschen in der Stadt nicht sicher fühlen. Jüngere Menschen, zum Beispiel Eltern mit kleinen Kindern, haben sich über Müll auf den Spielplätzen beklagt. Andere wünschen sich, dass die Geschichte der lokalen Industrie betont würde. Was denken Sie darüber?
Da bietet sich die Frage an, ob es das Ziel der Stadtverwaltung ist, Veranstaltungen oder ein Freizeitprogramm auszudenken. Aktivitäten kommen immer durch den Willen und die Initiative von Einzelpersonen zustande. Ich müsste wissen, was sich die Menschen konkret vorstellen und was ihnen hier fehlt. Was die Sicherheit betrifft, so ist die Kriminalitätsrate im Vergleich zum Jahr 2000 stark zurückgegangen und vergleichbar mit größeren Städten. Nun beschweren sich die Leute, dass es keine Unterhaltung gibt. Es stimmt, als ich jünger war, konnte ich es mir aussuchen, in welche Diskothek ich gehe – überall war es voll und wir konnten durch die Stadt ziehen. Aber das geht Hand in Hand mit Sicherheit und Unordnung. Am Samstag- oder Sonntagvormittag ist die Stadt oft ein einziges Chaos, das von betrunkenen Menschen gemacht wird. Wir haben hier eine Einheit zur Gewaltprävention und Angestellte der technischen Dienstleistungen, deren Job es ist, den öffentlichen Raum sauber und ordentlich zu halten. Sie überwachen die Situation und kontrollieren den öffentlichen Raum regelmäßig. Was die Geschichte der Industrie betrifft, gibt es hier zwei Lager. Die einen würden am liebsten jedes alte Haus abreißen lassen, die anderen am liebsten alles erhalten. Neben Beamtinnen und Beamten und der politischen Leitung der Stadt haben wir auch verschiedene Ausschüsse im Stadtrat: für Kultur, Sicherheit und Eigentumsverwaltung. Mit ihnen bearbeiten wir solche Themen.